Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der keltischen Tradition

Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der keltischen Tradition
Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der keltischen Tradition
 
Wie schon aus der obigen kurzen Übersicht klar geworden sein dürfte, liegen viele Glaubensvorstellungen, die in Darstellungen besser dokumentierter Religionen breiten Raum einnehmen, im Falle der keltischen Religion weitgehend im Dunkeln. So kennt man - im Unterschied etwa auch zur Religion der Nordgermanen - weder mythische Erzählungen von der Weltschöpfung noch solche vom Weltende. Auch die keltischen Vorstellungen vom Schicksal des Menschen nach dem Tode sind uns nur durch spärliche und nicht leicht zu deutende Hinweise griechischer und römischer Autoren bekannt. Der Hauptgrund für das Fehlen entsprechender einheimischer Überlieferungen ist der Umstand, dass die Kelten religiöse Texte ausschließlich mündlich tradierten und - wie Julius Caesar ausdrücklich hervorhebt - den Gebrauch der Schrift auf profane Zwecke beschränkten. Wie zahlreiche neue Funde altkeltischer Inschriften gerade in den letzten Jahrzehnten gezeigt haben, verwendeten die keltischen Volksstämme tatsächlich mehrere verschiedene Schriftsysteme, die sie in den Randzonen der Mittelmeerwelt jeweils von ihren südlichen Nachbarn übernahmen. Seit der Erforschung dieser Inschriften spricht man nun seltener als früher von einem einheitlichen »Festlandkeltisch« (im Unterschied zu den erst später bezeugten »inselkeltischen« Sprachen Irisch, Schottisch-Gälisch und Manx sowie Kymrisch, das heißt Walisisch, Bretonisch und Kornisch). Vielmehr unterscheidet man heute bei den festlandkeltischen Sprachzeugnissen zumeist zwischen Keltiberisch (in Spanien und Portugal), Gallisch (vor allem in Frankreich) und Lepontisch (in Oberitalien).
 
Das Keltiberische kennt man durch Inschriften in iberischer Schrift aus dem 3.-1. Jahrhundert v. Chr. sowie durch einige spätere Inschriften im lateinischen Alphabet. Das bedeutendste Sprachdenkmal ist bis heute die Bronzetafel von Botorrita, die 1970 bei der archäologischen Untersuchung des antiken Ortes Contrebia Belaisca, circa 20 km südlich von Saragossa, zutage kam. Über die genaue Bedeutung des Wortlauts ist bislang trotz intensiver Forschungsbemühungen keine Einigung erzielt worden, doch handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine Aufzeichnung sakraler Rechtsvorschriften. Unter den keltiberischen Inschriften in lateinischer Schrift ragt durch ihre Länge die große Felsinschrift von Peñalba de Villastar hervor, die bereits 1908 entdeckt wurde.
 
Das nach dem keltischen Volk der Lepontier benannte Lepontische ist durch etwa 40 kurze Inschriften aus der Gegend um Lugano bezeugt, die schon seit dem 6.-5. Jahrhundert v. Chr. in einer Variante der etruskischen Schrift aufgezeichnet wurden. Archäologisch ordnet man diese Sprachzeugnisse der Golasecca-Kultur zu, die der Einführung der La-Tène-Kultur in Oberitalien unmittelbar vorausgeht.
 
Die meisten Inschriften liefert indessen das Gallische, das in drei verschiedenen Alphabeten aufgezeichnet wurde: Aus Oberitalien stammen einige wenige Inschriften in etruskischer Schrift aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., aus dem südlichen Frankreich circa 60 Steininschriften in griechischer Schrift vor allem aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., aus verschiedenen Gegenden Galliens schließlich weit über 100 Texte in lateinischer Schrift aus dem 1.-4. Jahrhundert n. Chr. Das umfangreichste Sprachdenkmal war lange Zeit die 1897 entdeckte Bronzetafel von Coligny, die neueren Forschungen zufolge aus der Zeit um 200 n. Chr. stammen dürfte. Dabei handelt es sich um einen hoch entwickelten gallischen Kalender, der einen Zeitraum von fünf Sonnenjahren umfasste. Die Grundlage der Zeiteinteilung bildete ein Mondjahr aus 12 Monaten mit (7×30 + 5×29 =) 355 Tagen, wobei man zur Angleichung an das Sonnenjahr nach jeweils 30 Monaten, das heißt alle zweieinhalb Mondjahre, einen 30-tägigen Schaltmonat einschob. Aus der 1. Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. stammt die 1971 entdeckte Bleitafel von Chamalières, die eine Anrufung des schon aus lateinischen Weihinschriften bekannten keltischen Gottes Maponus enthält. Der längste fortlaufende gallische Text ist mit circa 1 000 Buchstaben und circa 160 Wörtern die Bleitafel von Larzac, die offenbar der Ausübung eines Schaden abwehrenden Zaubers diente. Sie kam 1983 bei der archäologischen Untersuchungen eines Gräberfelds, circa 15 km südlich von La Graufesenque im Département Aveyron, zutage.
 
Soweit die archäologischen Funde erkennen lassen, wurde das lateinische Alphabet von den romanisierten Kelten Britanniens allenfalls in sehr bescheidenem Umfang zur Aufzeichnung von Mitteilungen in ihrer Sprache benutzt. Die keltischen Bewohner Irlands dagegen entwickelten aus dem lateinischen Alphabet ein eigenes Schriftsystem, das in seiner ältesten bekannten Form mithilfe von Punkten und Strichen 20 verschiedene Laute unterscheidet. Diese Oghamschrift (die Bedeutung des Namens ist unbekannt) kam vermutlich im 3./4. Jahrhundert n. Chr. in Südirland auf. Die ältesten Denkmäler sind circa 300 Inschriften auf Stein, die in verschiedenen Gegenden Irlands sowie in Wales, Devon, Cornwall und auf der Insel Man gefunden wurden. Die meisten stammen aus dem 5./6. Jahrhundert n. Chr. und enthalten damit die ältesten Zeugnisse der irischen Sprache, doch handelt es sich dabei zumeist nur um Personen- oder Stammesnamen. Viele mittelalterliche irische Erzählungen berichten, dass man die Oghamschrift vor der Christianisierung auch zur Aufzeichnung von Mitteilungen auf Holz verwendete, doch handelt es sich bei diesen Hinweisen vielleicht nur um gelehrte Spekulationen der mittelalterlichen Autoren. Ob man die Oghamschrift ähnlich wie die germanischen Runen auch für magische Praktiken verwendete, ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung zweifelhaft.
 
Wie diese Beispiele zeigen, kann von einer keltischen Literatur im eigentlichen Sinn dieses Wortes zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesprochen werden. Dass die Kelten gleichwohl eine hoch entwickelte Dichtkunst pflegten, zeigen indessen nicht nur die späteren inselkeltischen Literaturen, sondern auch schon die Bemerkungen griechischer und römischer Beobachter.
 
Dr. Bernhard Maier
 
 
Birkhan, Helmut: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien 1997.
 Duval, Paul-Marie: Die Kelten. Aus dem Französischen. München 1978.
 Lessing, Erich und Kruta, Venceslas: Die Kelten. Entwicklung und Geschichte einer europäischen Kultur in Bildern. Freiburg im Breisgau 1979.
 Maier, Bernhard: Lexikon der keltischen Religion und Kultur. Stuttgart 1994.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем написать курсовую

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Schrift — Type; Font; Schriftart; Schriftsystem; Skript * * * Schrift [ʃrɪft], die; , en: 1. System von Zeichen, mit denen die Laute, Wörter, Sätze einer Sprache festgehalten, lesbar gemacht werden: lateinische Schrift; die russische Schrift lesen können.… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”